Praxisbeispiel
Präventionsverfahren für eine Betriebswirtschaftlerin

Wo lag die Herausforderung?

Die Betriebswirtschafterin hat Multiple Sklerose, wodurch es zu Gleichgewichtsstörungen, einer Gehbehinderung und einer stark verringerten Belastbarkeit kommt. Aufgrund ihrer Gehbehinderung und der Gleichgewichtsstörungen mit Stürzen kam sie oft mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zu spät zur Arbeit. Außerdem konnte sie behinderungsbedingt ihre Arbeitsaufgaben zunehmend nicht mehr bewältigen. Das Unternehmen suchte nach Möglichkeiten das Beschäftigungsverhältnis zu erhalten.

Was wurde gemacht?

Im Rahmen eines Präventionsverfahrens konnten zunächst Lösungen gefunden werden. So wurde ein behinderungsgerecht angepasster PKW für den Arbeitsweg eingesetzt und die verringerte Arbeitsleistung durch einen Beschäftigungssicherungszuschuss kompensiert. Da sich die Erkrankung weiter verschlechterte, konnten auch diese Maßnahmen nicht mehr helfen die Beschäftigung zu erhalten. Die Frau erhält deshalb eine Rente wegen voller Erwerbsminderung.

Schlagworte und weitere Informationen

Das zum Erreichen des Arbeitsplatzes erforderliche Fahrzeug wurde mit dem maximalen Betrag zur Anschaffung und die behinderungsbedingten Anpassungen komplett im Rahmen der Kraftfahrzeughilfe von der Arbeitsagentur gefördert. Das Unternehmen erhielt zur Kompensation der behinderungsbedingten verringerten Leistung vom Integrations- / Inklusionsamt einen Beschäftigungssicherungszuschuss. Da sich der Gesundheitszustand der Betriebswirtschafterin weiter verschlechterte, konnte sie trotz Einsatz eines Präventionsverfahrens nicht mehr weiter berufstätig sein und erhält eine Rente wegen voller Erwerbsminderung von der gesetzlichen Rentenversicherung.
In REHADAT finden Sie auch die Adresse und Telefon-Nummer der Arbeitsagenturen, Integrations- beziehungsweise Inklusionsämter und Deutschen Rentenversicherung.

Unternehmen und Mitarbeiterin

Die Betriebswirtschafterin ist 24 Jahre alt und arbeitet in Vollzeit in einer Großküche für ambulante Essensversorgung zusammen mit 83 Beschäftigten. Im Unternehmen gibt es einen Betriebsrat und eine Schwerbehindertenvertretung.

Arbeitssituation

Als die Betriebswirtschafterin ihre Stelle mit 20 Jahren antritt, ist sie Berufsanfängerin. Sie ist zuständig für die Organisation der einzelnen Essensfahrten und disponiert die Fahrten in die unterschiedlichen Stadtteile. Auch die Bestellmengen und die Verteilung der Portionen fallen in ihren Arbeitsbereich. Sie gewöhnt sich schnell an die Verantwortung, die man ihr überträgt und ist eine ausgesprochen freundliche und kollegiale Vorgesetzte.

Verschlechterung des Gesundheitszustandes

Nach einiger Zeit verändert sich die Betriebswirtschafterin. Sie kämpft mit Gleichgewichtsstörungen und muss sich beim Laufen sehr konzentrieren. Zur Arbeit kommt sie häufig zu spät. In einem Gespräch mit einer Personalreferentin begründet sie dies damit, dass sie schlecht laufen kann und oft hinfällt. Egal wie früh sie von zu Hause losgeht, sie kommt zu spät. Der Weg zur Bushaltestelle ist für sie sehr beschwerlich. Es ist für alle Beteiligten klar, so geht es nicht weiter. Der Personalreferentin legt die Betriebswirtschafterin die Kopie eines Schwerbehindertenausweises vor, mit einem GdB (Grad der Behinderung) von 60 und mit dem Merkzeichen „G“, das für Gehbehindert steht.

Erste Handlungsmöglichkeiten

Die Personalreferentin zieht die Schwerbehindertenvertretung des Betriebes hinzu. Zusammen besprechen sie das weitere Vorgehen. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln kann die Betriebswirtschafterin ihren Arbeitsplatz offenbar nicht erreichen, ohne sich selbst zu gefährden. Sie kommen überein, es ist das Beste, wenn die Betriebswirtschafterin mit einem eigenen PKW zur Arbeit kommen kann. Dann wäre es ihr möglich, den Weg zur Arbeit zu bewältigen. Einen Führerschein hat die Betriebswirtschafterin. Also stellt die Schwerbehindertenvertretung zusammen mit der Betriebswirtschafterin einen Antrag auf Kraftfahrzeughilfe bei der Agentur für Arbeit (nach der Kraftfahrzeughilfe-Verordnung KfzHV). Von der Agentur für Arbeit wird ein Zuschuss für das Auto, die nötige Servolenkung und ein Automatikgetriebe in der maximalen Zuschusshöhe bewilligt. Die Begründung, dass sie ohne Auto ihre Arbeitsstelle nicht erreichen kann und damit ihr Arbeitsplatz gefährdet ist, wurde akzeptiert – nach Augenscheinnahme der konkreten Verhältnisse für die Betriebswirtschafterin, durch einen prüfenden Berater der Agentur für Arbeit.

Weitere Verschlechterung der Gesundheit

Nach einigen Monaten verschlechtert sich der Zustand von der Betriebswirtschafterin und die Minderleistung wird so auffällig, dass die Personalleitung erneut um ein Gespräch mit der Schwerbehindertenvertretung, mit dem Betriebsrat und der Betriebswirtschafterin bittet. (Das ist möglich und sinnvoll. Die Grundlage bietet § 167 Abs. 1 SGB IX zur Prävention).

Bemerkenswert ist, dass die Betriebswirtschafterin keinerlei Krankenzeiten hat. Darauf angesprochen erklärt sie, dass sie gern arbeitet und sich im Betrieb wohlfühlt. Sie erzählt weiter, dass sie an Multipler Sklerose leidet und ihr die täglichen Arbeitsanforderungen sehr schwerfallen. Auf keinen Fall jedoch will sie sich krankschreiben lassen – obwohl ihr Neurologe dies nahegelegt hat. Erneut überlegen sie gemeinsam, was zu tun ist, um allen Beteiligten gerecht zu werden. So ist eine Eigen- und Fremdgefährdung in Betracht zu ziehen – gerade auch bei den Autofahrten. Dies scheint jedoch auch aus fachärztlicher Sicht nicht das Problem zu sein. Die Personalleitung will die Betriebswirtschafterin gern im Betrieb halten, aber die anfallende Arbeit muss nun einmal bewältigt werden. Sie setzt sich mit dem Integrations- / Inklusionsamt in Verbindung.

Mehr Unterstützungsmöglichkeiten

Das Integrations- / Inklusionsamt bietet dem Unternehmen einen Beschäftigungssicherungszuschuss zur Kompensation der außergewöhnlichen Belastung an, der befristet ist. Das Unternehmen wird aufgefordert, einen entsprechenden Antrag an das Integrations- / Inklusionsamt zu stellen.

Innerhalb des Betriebes wird mit allen Beteiligten abgesprochen, welche Arbeiten von anderen Beschäftigten übernommen werden und was die Betriebswirtschafterin sich noch zutraut bzw. was sie ohne Gefährdungen an Leistungen erbringen kann. Viel ist es nicht mehr. Allen Beteiligten ist klar, dass hier der Personalfürsorgeaspekt im Vordergrund stehen muss. Die Betriebswirtschafterin hat noch keinen Rentenanspruch, sie ist noch nicht lange genug sozialversicherungspflichtig beschäftigt.

Das Ziel ist es nun, die Voraussetzungen für den Rentenanspruch, auch mit Hilfe von anrechenbaren Krankenzeiten, zu erreichen.

Die Krankheit verschlimmert sich weiter

Kurz nach dem Gespräch bekommt die Betriebswirtschafterin einen „Schub“ (die Krankheit verschlimmert sich), von dem sie sich nicht mehr erholt. Arbeiten kann sie im Betrieb nun nicht mehr. Von der Krankenkasse wird sie aufgefordert eine Rehabilitations-Maßnahme zu beantragen.

Dieser Aufforderung kommt sie nach. Der Gutachter des medizinischen Dienstes der Krankenkasse stellt bei der Untersuchung fest, dass durch eine Reha Maßnahme eine Arbeitsfähigkeit nicht mehr erreicht werden kann und lehnt den Antrag ab. Die Betriebswirtschafterin bekommt weiter Krankengeldbezüge, bei rückwirkender Rentengewährung wird dies mit der Rente verrechnet. Der Rentenversicherungsträger folgt dem Leitsatz „Reha vor Rente“. Wenn jedoch eine Arbeitsfähigkeit nicht mehr erreicht werden kann, wird mit der Zustimmung der Betroffenen der Reha-Antrag in einen Rentenantrag umgewandelt.

Das Mindestziel wird erreicht

Aber inzwischen sind weitere 12 Monate vergangen und die Betriebswirtschafterin hat ihre Mindest-Renten-Einzahlung erreicht. Sie war in einer Rentenberatung und in ihrem speziellen Fall konnte sie die Kriterien für eine vorzeitige Wartezeit erfüllen. Es wird eine unbefristete Erwerbsunfähigkeitsrente bewilligt.

Bleibt noch nachzutragen, dass die Betriebswirtschafterin nach kurzer Zeit einen GdB von 100 bestätigt bekommt, mit den Merkzeichen „aG“ (außergewöhnliche Gehbehinderung), H (Hilflos), RF (Rundfunkgebührenbefreiung), B (Notwendigkeit ständiger Begleitung. Die Betriebswirtschafterin telefoniert noch oft mit ehemaligen Kolleginnen und mit der Schwerbehindertenvertretung. Sie erträgt ihr Schicksal mit bewundernswerter Stärke. Sie fühlt sich zeitweise richtig glücklich, weil sie in ihrer Familie und in ihrem weiteren sozialen Umfeld die notwendige Unterstützung hat.

Resümee

Die Krankheit setzte hier deutliche Grenzen der Handlungsmöglichkeiten. Aus betrieblicher Sicht und zum Wohle der Betriebswirtschafterin stand die finanzielle Absicherung im Zentrum der Aufmerksamkeit. Es ist gelungen, sie nicht noch zusätzlich mit einer drohenden Kündigung zu belasten, und sie schaut auf eine kurze, aber ausgefüllte und glückliche Arbeitszeit zurück.

Quelle

Dies ist ein Praxisbeispiel vom Institut für Personalentwicklung und Coaching (ipeco) aus dem Buch: Das Betriebliche Eingliederungsmanagement – herausgegeben vom W. Bertelsman Verlag (wbv).

ICF-Items

Mögliche Assessments – Verfahren und Merkmale zur Analyse und Bewertung

  • EFL - Gehen
  • EFL - Gleichgewicht
  • EFL - Handkoordination (rechts/links)
  • EFL - Schweregrad der Arbeit (Last/Herzfrequenz)
  • ELA - Balancieren
  • ELA - Feinmotorik
  • ELA - Gehen
  • ERGOS - aktuelle tägliche Dauerleistungsfähigkeit (Last/Herzfrequenz)
  • ERGOS - Fingergeschicklichkeit
  • ERGOS - Gleichgewicht halten
  • ERGOS - Handgeschicklichkeit
  • ERGOS - Laufen (Gehen)
  • IMBA - Arbeitszeit
  • IMBA - Feinmotorik (Fußgeschicklichkeit)
  • IMBA - Feinmotorik (Hand- und Fingergeschicklichkeit)
  • IMBA - Gehen/Steigen
  • IMBA - Gleichgewicht
  • IMBA - physische Ausdauer (Last/Herz-Lungensystem)
  • MELBA - Feinmotorik

Referenznummer:

Pb/110871


Informationsstand: 31.08.2022