Praxisbeispiel
Betriebliches Eingliederungsmanagement für einen Chemiefacharbeiter

Wo lag die Herausforderung?

Dem Chemiefacharbeiter wurde ein Tumor im Kopf entfernt, wodurch er acht Monate lang arbeitsunfähig war. Durch den Eingriff erinnert sich der Mann nicht mehr an seine Arbeitsabläufe und kann Anweisungen nicht mehr nachvollziehen. Das Unternehmen war deshalb gezwungen, ihn zunächst von der Arbeit freizustellen.

Was wurde gemacht?

Im Gespräch mit dem betriebsärztlichen Dienst wurde deutlich, dass er nur noch für einfache Tätigkeiten eingesetzt werden kann. Zur Beratung wandte sich der Chemiebetrieb an ein dienstleistendes Unternehmen für das Betriebliche Eingliederungsmanagement (BEM). Im Rahmen des BEM wurde der Integrationsfachdienst mit einbezogen und es stellte sich heraus, dass der Chemiefacharbeiter auch am neuen Arbeitsplatz im Lager nur mit Unterstützung einer Arbeitsassistenz und der dort Beschäftigten tätig sein kann.

Schlagworte und weitere Informationen

Das Integrations- beziehungsweise Inklusionsamt fördert die Arbeitsassistenz und auch den Beschäftigungssicherungszuschuss, der an das Unternehmen gezahlt wird. Unterstützt wurden die Beteiligten durch den Integrationsfachdienst.
In REHADAT finden Sie auch die Adressen und Telefon-Nummern der Integrations- beziehungsweise Inklusionsämter und Integrationsfachdienste.

Unternehmen und Mitarbeiter

Der Chemiefacharbeiter ist 41 Jahre alt und arbeitet in Vollzeit seit 22 Jahren in einem Chemieunternehmen, das für die Autoindustrie Klebstoffe herstellt. Der Betrieb beschäftigt 104 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, ein Betriebsrat ist gewählt, aber das Betriebliche Eingliederungsmanagement (BEM) ist noch nicht eingeführt.

Die Vorgeschichte

Dem Chemiefacharbeiter wurde ein Tumor im Kopf entfernt und er war acht Monate arbeitsunfähig. Im Anschluss bekommt er auf Antrag einen GdB (Grad der Behinderung) von 80 zuerkannt und ist offiziell schwerbehindert. Dann meldet er sich im Unternehmen gesund. Sein direkter Vorgesetzter macht den Vorschlag, nach solch einer schweren Operation langsam wieder in den Arbeitsalltag einzusteigen und schlägt ihm eine Wiedereingliederung vor. Davon aber will der Chemiefacharbeiter nichts wissen. Er fühlt sich wirklich fit und will nun endlich wieder arbeiten. Auf die Nachfrage des Meisters, ob es irgendwelche Einschränkungen für ihn gibt oder ob etwas beachtet werden soll, wenn er wieder arbeitet, sagt er nein, alles ist in Ordnung, er kann seine Arbeit wie gewohnt aufnehmen. Das wird nun akzeptiert und der Chemiefacharbeiter nimmt seine Arbeit wieder auf.

Differenzen in der Einschätzung der Arbeitssituation

Der Arbeitsbeginn gestaltet sich anders, als die Beteiligten sich das vorgestellt haben. Der Chemiefacharbeiter kennt die Arbeitsabläufe nicht mehr. Auch kann er Anweisungen und Erklärungen nicht verstehen oder nachvollziehen. Der Vorgesetzte ist ratlos. Ein formales BEM gibt es im Betrieb nicht, aber der Meister bittet um ein Gespräch mit dem Personalleiter, dem Betriebsrat und mit dem Chemiefacharbeiter. Der Personalleiter fragt ihn, wie er sich fühlt und wie er seine Arbeitsleistung einschätzt. Der fühlt sich gut, hat keine Probleme und freut sich, dass er wieder arbeiten kann.

Fremdwahrnehmungen decken sich nicht ...

Der Meister findet freundliche Worte und macht deutlich, dass das Kollegium dies anders sieht. Er schildert einige Situationen und Vorfälle an die sich der Chemiefacharbeiter aber nicht mehr erinnern kann. Der Vorgesetzte versichert ihm, dass er vor seiner Erkrankung ein sehr zuverlässiger Kollege gewesen ist, dem er und alle anderen voll vertraut haben. Er hatte die Verantwortung für die Auszubildenden mit übernommen. Die Abläufe im Betrieb hatte er im Blick. Diese Übernahme von Verantwortung und den Überblick traut er ihm im Moment jedoch nicht zu.

... mit der Selbstwahrnehmung

Der Chemiefacharbeiter sitzt gut gelaunt und entspannt da und erweckt nicht den Eindruck, dass ihn das Gespräch belastet. Er sagt, er kennt sich hier sehr gut aus, schließlich hat er schon seine Ausbildung hier im Betrieb gemacht. Es scheint nicht einfach, ihm klarzumachen, dass seine Selbsteinschätzung eine völlig andere ist, als die seiner Umwelt. Schließlich verständigt man sich darauf, dass er im Moment nicht weiterarbeitet und – im Rahmen einer bezahlten Freistellung – zum Betriebsarzt geht. Der Personalleiter vereinbart einen Termin für ihn. Das akzeptiert der Chemiefacharbeiter, findet es aber schade, dass er nicht arbeiten darf.

Beteiligung des Betriebsarztes

Beim Betriebsarzt hat er eine Entbindung der Schweigepflicht unterschrieben, so dass auch die Informationen aus den Krankenunterlagen vom zuständigen Neurologen bei der Beurteilung durch den Betriebsarzt einfließen können. Nachdem diese Einschätzung des Betriebsarztes, die auch ohne Diagnosenennung möglich ist, der Personalleitung vorliegt, wird ein erneuter Gesprächstermin mit dem Vorgesetzten des Chemiefacharbeiters und diesem selbst vereinbart.

Aus der arbeitsmedizinischen Stellungnahme geht hervor, dass der Chemiefacharbeiter arbeiten kann, jedoch nicht mehr in seinem alten Arbeitsbereich. Eine leichte Arbeit mit einfachen Tätigkeiten, bei der er keine Maschinen bedient und keine große Verantwortung übernimmt, kann er unter ständiger Anweisung und Begleitung ausführen. Es wird sich schnell darauf verständigt, dass nur eine Arbeit als Lagerhilfe in Frage kommt. Damit ist er auch einverstanden. Inzwischen hat ihm der Betriebsarzt erklärt, sagt er, dass er seine bisherige Arbeit nicht mehr ausführen kann.

Ein neuer Arbeitsplatz

Der Chemiefacharbeiter fängt also an im Lager zu arbeiten. Aber auch dort ist seine Arbeit chaotisch. Die Aufgaben, die in den Wochenplansitzungen besprochen wurden, vergisst er. Man erwischt ihn, wie er trotzt striktem Verbot einen Gabelstapler fährt. Er ist für seine Umgebung eine Gefahr. Das Kollegium ist genervt und weigert sich, weiter mit ihm zusammenzuarbeiten. Das Unternehmen jedoch fühlt sich verantwortlich und will einen bewährten Mitarbeiter, der viele Jahre gute Arbeit geleistet hat, nicht einfach kündigen. Es holt sich externe Unterstützung, um sich beraten zu lassen.

Hilfe vom Integrations- / Inklusionsamt und dem Fachdienst
Das Unternehmen wendet sich an das Institut für Personalentwicklung und Coaching (ipeco) und dieses schlägt zunächst ein Gespräch mit einer Vertreterin oder einem Vertreter des Integrations- / Inklusionsamtes vor. Das Gespräch findet statt und schnell ist klar, dass auch der Integrationsfachdienst für die Begleitung arbeitspsychologische Prozesse hinzugezogen wird, um das Kollegium mit einzubeziehen. Darüber hinaus wird der Chemiefacharbeiter eine Arbeitsassistenz zur Seite gestellt, deren Kosten vom Integrations- / Inklusionsamt übernommen werden. Die sollte in einem Coaching vor Ort herausfinden, welche Art der Unterstützung der Chemiefacharbeiter benötigt.

Darüber hinaus bietet das Integrations- / Inklusionsamt bei einer Weiterbeschäftigung einen Beschäftigungssicherungszuschuss zur Kompensation der außergewöhnlichen Belastung für das Unternehmen an.

Die Arbeitsassistenz kommt zweimal in der Woche und beobachtet, wie der Chemiefacharbeiter arbeitet. Sie macht Vorschläge, wie bestimmte Arbeiten von ihm einfacher auszuführen sind.

Zentrale Bezugsperson

Der Integrationsfachdienst und die Arbeitsassistenz bitten die Kolleginnen und Kollegen aus dem Lager zu einem Gespräch. Es wird das für die Kolleginnen und Kollegen unerklärliche Verhalten vom Chemiefacharbeiter besprochen, um es zu verstehen und um nach gemeinsamen Lösungen zu suchen. Die Arbeitsassistenz schlägt vor, dass sich von den Kolleginnen und Kollegen eine Person bereit erklärt, im Betrieb als zentrale Bezugsperson für ihn da zu sein. Die Arbeitsabläufe und Aufgaben werden strukturiert und transparent gestaltet. Über- und Unterforderungen werden vermieden. Von der Arbeitsassistenz wird zugesichert, dass schriftlich festgelegt wird, was und wie der Chemiefacharbeiter arbeitet. Die Kolleginnen und Kollegen berücksichtigen bei den Besprechungen zu den Arbeitsleistungen im Wochenplan, dass er nicht mehr allein arbeiten kann. Sie wollen ihn unterstützen.

Ein Kollege berichtet, dass der Chemiefacharbeiter erzählt hat, er habe einen gesetzlich eingesetzten Betreuer (Übernahme einer Vormundschaft). Das war für alle neu. Auch der Personalleiter weiß bisher nichts davon. Mit dem Betreuer wird Kontakt aufgenommen und es wird geklärt, für welche Angelegenheiten eine Betreuung vom Gericht eingesetzt wurde.

Das in diesem Fall beratende Institut für Personalentwicklung und Coaching (ipeco) empfiehlt dem Unternehmen, dass es für den Chemiefacharbeiter eine Mehrfachanrechnung bei der Arbeitsagentur beantragen sollte.

Resümee

Mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln wurde hier ein Arbeitsplatz geschaffen, auf dem die noch verbleibenden Fähigkeiten und Kenntnisse mit Unterstützung auch der Kolleginnen und Kollegen erbracht werden können. Ausschlaggebend war die Bereitschaft und der Wille der Beteiligten, vor allem auch des Unternehmens, einen bewährten Mitarbeiter nicht fallen zu lassen.

Quelle

Dies ist ein Praxisbeispiel vom Institut für Personalentwicklung und Coaching (ipeco) aus dem Buch: Das Betriebliche Eingliederungsmanagement – herausgegeben vom W. Bertelsman Verlag (wbv).

ICF-Items

Mögliche Assessments – Verfahren und Merkmale zur Analyse und Bewertung

  • IMBA - Arbeitssicherheit
  • IMBA - Arbeitszeit
  • IMBA - Aufmerksamkeit
  • IMBA - Kontaktfähigkeit
  • IMBA - Konzentration
  • IMBA - Kritikfähigkeit
  • IMBA - Kritisierbarkeit
  • IMBA - Lernen/Merken
  • IMBA - Misserfolgstoleranz
  • IMBA - Ordnungsbereitschaft
  • IMBA - Selbständigkeit
  • IMBA - Teamarbeit
  • IMBA - Umstellung
  • MELBA - Aufmerksamkeit
  • MELBA - Kontaktfähigkeit
  • MELBA - Konzentration
  • MELBA - Kritikfähigkeit
  • MELBA - Kritisierbarkeit
  • MELBA - Lernen/Merken
  • MELBA - Misserfolgstoleranz
  • MELBA - Ordnungsbereitschaft
  • MELBA - Selbständigkeit
  • MELBA - Teamarbeit
  • MELBA - Umstellung

Referenznummer:

Pb/110870


Informationsstand: 26.04.2022