Praxisbeispiel
Kurzbeschreibung:
Ein Interview von REHADAT mit Prof. Dr. Martin Raithel, dem Chefarzt der Medizinischen Klinik II des Malteser Waldkrankenhauses in Erlangen, in welcher auch Patientinnen und Patienten mit Long COVID ambulant sowie stationär behandelt werden – im Rahmen von REHADAT-Wissen Ausgabe Long COVID.
Inhalte des Gesprächs sind die Themenbereiche:
Inhalte des Gesprächs sind die Themenbereiche:
- Ablauf für Patientinnen und Patienten mit Long Covid in der Klinik
- Vorgehen bei der Behandlung
- Aussichten auf die berufliche Situation der Betroffenen
- Vorgehen bei schwer Betroffenen
- Versorgung nach der Entlassung
- Gestaltung der Rückkehr zum Arbeitsplatz nach längerer Arbeitsunfähigkeit
- Auswirkungen auf Betroffene in Bezug auf den beruflichen Wiedereinstieg
- Beschäftigung einer von Long COVID betroffenen Ärztin im eigenen Krankenhaus
- Herausfordernde und hilfreiche Erfahrungen bei der Beschäftigung
- Empfehlungen für andere Unternehmen
- Wichtigkeit von Arbeit für Betroffene
- Ratschläge für Betroffene
Schlagworte und weitere Informationen
Ein geführtes Interview von REHADAT mit Prof. Dr. Martin Raithel für REHADAT-Wissen Ausgabe Long COVID.
Zur Person:
Prof. Dr. med. Martin Raithel ist Chefarzt der Medizinischen Klinik II des Malteser Waldkrankenhauses in Erlangen. Er behandelt dort Patientinnen und Patienten mit Erkrankungen aus dem Bereich der Allgemeinen Inneren Medizin mit den Schwerpunkten Gastroenterologie, interventionelle Endoskopie, Diabetologie sowie Hämato-Onkologie. Auch Menschen mit Long COVID werden in der Klinik ambulant oder stationär behandelt. Darüber hinaus ist in seinem Team eine von Long COVID betroffene Ärztin tätig.
REHADAT:
Wie ist der Ablauf bei Patient*innen mit Long COVID in Ihrer Klinik?
Herr Raithel:
Wir haben einen internen Ablaufplan entwickelt, bei dem es zuallererst darum geht, die Diagnose Long COVID zu sichern. Zunächst untersuchen wir alle Patient*innen gründlich internistisch, um auszuschließen, dass eine schon vor der Coronavirus-Infektion vorhandene, jedoch bislang unentdeckte Grunderkrankung besteht. Wenn Long COVID vorliegt, behandeln wir entweder ambulant oder in schweren Fällen auch stationär.
REHADAT:
Wie gehen Sie bei der Behandlung vor?
Herr Raithel:
Bei der Behandlung orientieren wir uns an den aktuellen klinischen Leitlinien, können diese jedoch aufgrund der jeweils individuellen Ausgangssituation nicht pauschal auf alle Betroffenen anwenden. Long COVID erfordert eine ausgesprochen personalisierte Medizin und Rehabilitation. Als Problem sehen wir, dass die Behandlung und Begleitung von Long COVID-Betroffenen viel Zeit erfordert, die in Akutkliniken nicht vorgesehen ist.
REHADAT:
Mit Blick auf die berufliche Situation der Betroffenen – wie geht es weiter?
Herr Raithel:
Nach der aufwendigen Long COVID-Diagnostik erfolgt möglichst zeitnah die Abklärung der Arbeitsfähigkeit. Bei hoher Motivation seitens der Betroffenen und den körperlichen Voraussetzungen können wir im ambulanten Setting gemeinsam einen individuellen Reha-Plan erstellen, der die berufliche Perspektive einschließt. Ein wichtiger Baustein ist die Wiederherstellung eines normalen Lebensrhythmus, der beispielsweise durch die Schlafstörungen vieler Long COVID-Betroffener beeinträchtigt sein kann. Müssen auch psychische Faktoren, wie beispielsweise eine Depression, berücksichtigt werden, ziehen wir entsprechende psychiatrische oder psychologische Expertise hinzu.
REHADAT:
Wie gehen Sie bei schwer betroffenen Personen vor?
Herr Raithel:
Wir haben Patient*innen mit Fatigue und Belastungsintoleranz, die im dunklen Zimmer liegen und überhaupt nicht belastbar sind. Das Thema Arbeit steht hier nicht im Vordergrund. Wir behandeln hier zum Beispiel mit Sauerstoffgaben sowie hochdosierten Vitaminen wie B1, C, etc. und wenn notwendig Nährstoffergänzungen oder speziellen Medikamenten. Auch die Stärkung der Resilienz und die Anbahnung von Mobilität sind wichtig, um nach und nach weitere Therapien möglich zu machen.
REHADAT:
Was sind mögliche nächste Schritte bei schwer Betroffenen?
Herr Raithel:
Wir gehen interdisziplinär, sehr kleinschrittig und mit engmaschiger Begleitung durch möglichst feste Bezugspersonen vor. Ist eine Steigerung der Belastung möglich, beginnen wir mit einer zunächst nur minutenweisen körperlichen und/oder mentalen Belastung, beispielsweise in Form eines Konzentrationsspiels, um die individuelle Belastungsdauer zu testen. Im Anschluss an eine Erholungsphase wird besprochen, wie es war und wie weiter vorgegangen werden kann. So versuchen wir, schwer Betroffene langsam und schrittweise an die Wiederaufnahme der Arbeit heranzuführen.
REHADAT:
Wie sind die Long COVID-Betroffenen im Anschluss an die Entlassung versorgt?
Herr Raithel:
Wenn Patient*innen nach Hause entlassen werden, ist die ambulante Versorgung häufig nicht nahtlos gewährleistet. Im Rahmen unserer Möglichkeiten versuchen wir, vor der Entlassung ein interdisziplinäres Fallmanagement zu initiieren und die Koordination notwendiger Schritte, beispielsweise hinsichtlich Ernährung, Resilienzsteigerung, später Training und medikamentöse Therapie, an den Hausarzt oder die Hausärztin zu übergeben.
REHADAT:
Wie sollte die Rückkehr zur Arbeit nach längerer Arbeitsunfähigkeit gestaltet werden?
Herr Raithel:
Wichtig ist, dass niedrigschwellig und mit einer langsamen Heranführung an die Arbeit begonnen wird. Bei der regulären stufenweisen Wiedereingliederung sind in der ersten Stufe täglich zwei Stunden Arbeit vorgesehen, das ist bei Long COVID häufig zu viel. Hier ist mehr Flexibilität gefragt – zum Beispiel, dass die Betroffenen zu Beginn eine Stunde oder noch weniger, zum Beispiel 10 oder 20 Minuten, arbeiten. Nach und nach kann das Pensum dann gesteigert werden.
REHADAT:
Was macht das mit den Betroffenen?
Herr Raithel:
Viele Patient*innen haben Ängste vor ihrem beruflichen Wiedereinstieg und einer möglichen Überlastung. Diese können sie bei Bedarf mit einer Psychologin oder einem Psychologen besprechen. Wichtig ist, die Betroffenen darin zu bestärken, dass eine gut geplante und dosierte Belastung sinnvoll ist und die Wiederaufnahme der Arbeit das Selbstvertrauen stärken kann, wobei eine Überforderung im Laufe des Rückkehrprozesses zu vermeiden ist. Ich denke, dass Überforderung der häufigste Grund für den Abbruch der Wiedereingliederung ist. Andererseits trägt Betätigung und das Wiederfinden in der beruflichen Situation auch zur Genesung bei.
REHADAT:
Sie beschäftigen eine Ärztin mit Long COVID. Wie haben Sie diese unterstützt?
Herr Raithel:
Wir haben eine Wiedereingliederung mit anfangs sehr kurzen Arbeitszeiten und einer langsamen Steigerung der Belastung durchgeführt. Zudem wurde vereinbart, dass sich die Ärztin ihre Arbeit selbst einteilen konnte. Wenn ihre individuelle Grenze erreicht war, konnte sie Aufgaben am darauffolgenden Tag fortführen. Darüber hinaus konnte sie jederzeit Erholungsphasen einbauen, sich zwischendurch nach draußen begeben oder anderweitig ausruhen, beispielsweise mit Musik. Es gilt herauszufinden und zu ermöglichen, was im Einzelfall am besten zur Erholung beiträgt.
Von Arbeitgeberseite haben wir versucht, den Druck auf die Mitarbeiterin so gering wie möglich zu halten. Sie konnte beispielsweise Berichte zuhause lesen und sich so im Homeoffice auf Termine vorbereiten. Das hat ihr den Stress am Arbeitsplatz genommen, sich unmittelbar vor Terminen mit Informationen zu Patient*innen befassen und daraufhin direkt handeln zu müssen. Dadurch konnte sie ihre Arbeitsbelastung selbst steuern und sukzessive steigern.
Von Arbeitgeberseite haben wir versucht, den Druck auf die Mitarbeiterin so gering wie möglich zu halten. Sie konnte beispielsweise Berichte zuhause lesen und sich so im Homeoffice auf Termine vorbereiten. Das hat ihr den Stress am Arbeitsplatz genommen, sich unmittelbar vor Terminen mit Informationen zu Patient*innen befassen und daraufhin direkt handeln zu müssen. Dadurch konnte sie ihre Arbeitsbelastung selbst steuern und sukzessive steigern.
REHADAT:
Welche Erfahrungen haben Sie dabei als herausfordernd empfunden?
Herr Raithel:
Die größte Herausforderung in unserem Klinikalltag war, die hohe geforderte individuelle Flexibilität umzusetzen, was wir zwar erreicht haben, was aber im Klinikalltag planmäßig so nicht vorgesehen ist. Die in unserer Ambulanz tätige Ärztin konnte zunächst nicht mit der dortigen Termindichte und dem regulären Patientenkontakt arbeiten. Daher mussten wir unter großer Anstrengung sämtliche Termine anders planen. Das gilt genauso für andere Bereiche, zum Beispiel wenn eine Person umsatzrelevant oder in einem Bereich mit vielen Kundenkontakten tätig ist. Aber nur mit Flexibilität und kreativen Lösungen funktioniert es!
REHADAT:
Können Sie Beispiele dafür nennen?
Herr Raithel:
Je nach Tätigkeit ergeben sich sehr unterschiedliche Ansätze: Homeoffice ist häufig hilfreich, kann aber auch Nachteile haben, wenn dadurch die Kontakte zu Kolleginnen und Kollegen fehlen. Ist jemand beruflich vielen Kontakten ausgesetzt, kann eine schrittweise Heranführung an die Tätigkeit über die Anzahl der Kontakte oder die Gruppengröße erfolgen. Eine Person, die üblicherweise große Gruppen schulen muss, kann stattdessen mit Vorträgen vor einer kleineren Gruppe oder im Online-Format starten. Ist ein Unternehmen stark profitorientiert ausgerichtet, spielt die Sensibilisierung für das Thema Long COVID eine zentrale Rolle.
REHADAT:
Wie sind Sie im Team mit der Situation umgegangen?
Herr Raithel:
Wir haben die Situation im Team kommuniziert und im Detail besprochen, wie die Wiedereingliederung der Long COVID-betroffenen Mitarbeiterin abläuft. Die offene Kommunikation war von entscheidender Bedeutung, damit in unserem Team alle mitziehen und die Kollegin nicht überfordern, zum Beispiel in Bezug auf die Dienstplanung. Auch die persönliche Ebene spielt eine Rolle – einerseits sollte die Kollegin nicht durch ständige Ansprachen und neue Aufgaben überfordert werden, andererseits war es für sie wichtig, über die kollegialen Kontakte zurück ins Team zu finden.
REHADAT:
Was war aus Ihrer Sicht besonders hilfreich?
Herr Raithel:
Das Betriebliche Eingliederungsmanagement! – Aus meiner Sicht ist es ein Segen, dass es das gibt. Dass sich jemand darum kümmert, Beschäftigte stufenweise wiedereinzugliedern, war für mich eine große Unterstützung. Bei uns hat das BEM gut funktioniert – wobei wir die hohe Flexibilität nur durch einen sehr intensiven Prozess und zahlreiche Gespräche, auch unter Beteiligung der Personalverwaltung, erreicht haben. Leider haben die für das BEM zuständigen Personen oftmals nicht die erforderlichen Kapazitäten für die nötige individuelle Begleitung von Long COVID-Patient*innen im Arbeitskontext. Hier müsste es ein Case-Management oder eine Betreuung durch Coaches geben, die den Betroffenen im gesamten Prozess zur Seite stehen.
REHADAT:
Was empfehlen Sie anderen Unternehmen für den Umgang mit Long COVID?
Herr Raithel:
Notwendig ist zunächst die grundsätzliche Bereitschaft und eine Person, die sich der Situation annimmt. Geduld und Flexibilität sind immens wichtig und darüber hinaus Optimismus und Konstanz. Die berufliche Wiedereingliederung verläuft oft nicht geradlinig. Bleiben Sie mit Ihren Mitarbeitenden im Gespräch – über Auswirkungen von Long COVID und Grenzen im Arbeitsalltag, aber auch über Erreichtes und die nächsten Schritte. Eine engmaschige Begleitung und regelmäßige Reflexion sind wichtig, um bei Bedarf Anpassungen vorzunehmen und eine Überforderung zu vermeiden.
REHADAT:
Wie wichtig ist Arbeiten für die Betroffenen?
Herr Raithel:
Mit der passenden Dosierung erfahren die Betroffenen, dass sie sukzessive wieder mehr tun können. Dadurch kann Arbeit auch stimulierend sein, Selbstvertrauen stiften und Abwärtsspiralen unterbrechen. Ich kann daher nur an Arbeitgebende appellieren, die Betroffenen nicht abzuweisen, sondern die Ressourcen zu sehen, diese gemeinsam zu besprechen, um diese schließlich weiter zu fördern und dranzubleiben. Erreichte Schritte geben allen Beteiligten Zuversicht, dass die Arbeitnehmerin oder der Arbeitnehmer beruflich wieder Fuß fassen kann.
REHADAT:
Was raten Sie Long COVID-Betroffenen hinsichtlich ihrer beruflichen Perspektive?
Herr Raithel:
Stecken Sie den Kopf nicht in den Sand. Teilen Sie sich mit und schildern Sie Ihre Situation. Meines Erachtens sollte man Long COVID im Arbeitskontext möglichst früh bekannt machen, zum Beispiel über die Betriebsärztin oder den Betriebsarzt, die es in vielen Betrieben gibt. Auch das direkte Gespräch mit den Vorgesetzten ist – bei einem vertrauensvollen Verhältnis – ein Weg, sich mitzuteilen. Sobald die Situation thematisiert wird, beginnt eine Weichenstellung und von den Betroffenen fällt oft erheblicher psychischer Druck ab.
Und ganz wichtig: Behalten Sie die Zuversicht, dass es einen Weg gibt. Suchen Sie sich dazu eine vertrauensvolle Person, die Sie begleitet, mit Ihnen individuelle Ziele definiert und Sie „hochzieht“. Das können Akteure aus dem BEM sein, vertrauensvolle Kolleg*innen oder Vorgesetzte sowie behandelnde Therapeut*innen oder ein Arzt oder eine Ärztin. Wenn die Selbstwirksamkeit schrittweise zurückkommt, fördert das auch das Wiedererlangen von Kraft, Erfolgserlebnissen, Kreativität und letztlich Freude an der Arbeit.
Und ganz wichtig: Behalten Sie die Zuversicht, dass es einen Weg gibt. Suchen Sie sich dazu eine vertrauensvolle Person, die Sie begleitet, mit Ihnen individuelle Ziele definiert und Sie „hochzieht“. Das können Akteure aus dem BEM sein, vertrauensvolle Kolleg*innen oder Vorgesetzte sowie behandelnde Therapeut*innen oder ein Arzt oder eine Ärztin. Wenn die Selbstwirksamkeit schrittweise zurückkommt, fördert das auch das Wiedererlangen von Kraft, Erfolgserlebnissen, Kreativität und letztlich Freude an der Arbeit.
Es liegen keine Informationen zur Förderung vor.
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Mögliche Assessments – Verfahren und Merkmale zur Analyse und Bewertung
- EFL - Schweregrad der Arbeit (Last/Herzfrequenz)
- ERGOS - aktuelle tägliche Dauerleistungsfähigkeit (Last/Herzfrequenz)
- IMBA - Arbeitszeit
- IMBA - Aufmerksamkeit
- IMBA - Konzentration
- IMBA - physische Ausdauer (Last/Herz-Lungensystem)
- MELBA - Aufmerksamkeit
- MELBA - Konzentration
Referenznummer:
Pb/111234
Informationsstand: 28.09.2023